Am Dienstag, den 8. April, sind in Istanbul erneut tausende Studentinnen und Studenten auf die Straße gegangen – trotz der massiven Repressionen, mit denen Erdoğans Regierung die Proteste der letzten Wochen zu ersticken versucht. Sie gehen auf die Straße gegen ein politisches System, das sie nicht mehr ertragen.
Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, war die Verhaftung des Istanbuler Oberbürgermeisters Imamoğlu von der größten Oppositionspartei CHP. Es war offensichtlich, dass Erdoğan mit dieser willkürlichen Verhaftung seinen wichtigsten Gegner bei den nächsten Präsidentschaftswahlen aus dem Weg räumen wollte – vor allem, nachdem Erdoğan bereits bei den Kommunalwahlen im März 2024 eine Niederlage erlebt hatte.
Empört über die zunehmend diktatorischen Verhältnisse und eine Justiz, die bei allen Machenschaften der Regierung mitmacht, gingen noch am gleichen Tag tausende junge Leute in Istanbul auf die Straße, in den Tagen darauf auch in zahlreichen anderen Städten.
Sie riefen unter anderem: „Nicht an den Wahlurnen, auf der Straße spielt die Musik“. Das war einerseits eine Botschaft an Erdoğan.
Aber es war ebenso eine Botschaft an die CHP. Diese entschloss sich nämlich erst nach einigem Zögern und unter dem Druck der Jugend, sich an die Spitze der Proteste zu stellen und auch selber Massenkundgebungen zu organisieren, an denen teilweise hunderttausende Menschen teilnahmen.
Auch die pro-kurdische DEM-Partei zögerte mehrere Tage, bevor sie die Proteste unterstützte. Denn Erdoğan versuchte gerade, die DEM-Partei auf seine Seite zu ziehen, indem er mit ihr über einen möglichen Frieden in den kurdischen Gebieten verhandelte – allerdings ohne auch nur das geringste ernsthafte Zugeständnis zu machen.
Die CHP versucht, die Proteste auf eine einzige Perspektive zu beschränken: auf einen Wechsel der Regierung. Sie versucht den Protestierenden das Gefühl zu vermitteln, eine CHP-Regierung würde alles anders machen und alle wichtigen Probleme lösen.
Sie möchte auf keinen Fall die Menschen dazu ermuntern, sich auch in Zukunft durch Massenproteste selber in die Politik einzumischen. Sie versucht im Gegenteil der türkischen Unternehmerschaft und den internationalen Banken zu beweisen, dass sie eine vertrauenswürdige Alternative zu der bisherigen Regierung ist und für Stabilität (im Sinne der Kapitalisten) sorgen kann.
Aber die protestierende Jugend erwartet etwas anderes – und ebenso die Arbeitenden und die einfache Bevölkerung. Sie leiden seit Jahren unter der immer schlimmer werdenden Wirtschaftskrise. Sie leiden unter einer galoppierenden Inflation, die ganze Teile der Bevölkerung in tiefe Armut geschleudert hat, vor allem Arbeiter mit unsicheren Verträgen, junge Arbeitende und Rentner.
Sie sehnen sich nach einem Ende der Wirtschaftskrise und des gesamten Regimes, das einzig die Interessen einer privilegierten Minderheit schützt.
Diese Veränderungen können ihnen keine Präsidentschaftswahlen bringen (wenn diese überhaupt stattfinden). Dafür ist es notwendig, dass die Empörung der Jugend die Arbeiterklasse in den Betrieben erfasst und diese beginnen, für ihre eigenen Interessen zu kämpfen. Nur so könnte eine Bewegung ganz anderer Schlagkraft und mit weitergehenden politischen Perspektiven entstehen.
Anscheinend hatten die Herrschenden in der Türkei anfangs durchaus Sorge, dass die Protestbewegung die Arbeiter anstecken könnte, und versuchten kein Öl ins Feuer zu gießen.
So hatte es in den letzten Monaten ein paar aufsehenerregende Streiks in der Textil- und Metallindustrie gegeben, die die Regierung verboten hatte – die aber von den Arbeitern trotzdem weitergeführt und teilweise gewonnen wurden.
In Antep war einer der Streikführer verhaftet worden, und seitdem gab es immer wieder kleinere Proteste in den dortigen Textilbetrieben. Als nun der Kampf der Jugend gegen die Regierung losging, hat die Regierung den verhafteten Streikführer ganz plötzlich freigelassen.
Andere Arbeiter berichten, wie ihre Bosse ihnen seit der Protestbewegung plötzlich Lohnerhöhungen gewähren, die sie vorher verweigert haben. Die Herrschenden in der Türkei wissen, welche Macht die Arbeiterklasse haben kann – und welche Gefahr sie für sie darstellen kann. Wenn sie ernsthaft zu kämpfen beginnt, haben ihre Kämpfe nicht nur das Potenzial, Erdoğan zu Fall zu bringen, sondern das ganze Ausbeutungssystem, das in der Türkei und darüber hinaus regiert.