Die Partei des Präsidenten Erdoğan (AKP) hat bei den Wahlen in der Türkei die absolute Mehrheit verloren. Selbstgefällig hatte Erdoğan gedacht, er könne seine 13 Jahre Alleinherrschaft fortsetzen. Doch eine wachsende Unzufriedenheit mit seiner Politik, mit der sozialen Entwicklung und vor allem mit seinem Versuch, sich als Präsident noch viel mehr Macht zu geben, hat ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Kann die arbeitende Bevölkerung nun hoffen, dass es weniger Angriffe auf demokratische Rechte und auf ihre Lebensbedingungen geben wird? Leider nicht. Nicht zuletzt, weil auch die beiden größten Oppositionsparteien seit Jahrzehnten eine arbeiterfeindliche und unterdrückerische Politik vertreten. Eine der beiden ist offen rechtsradikal.
Egal, welche Regierung beim Feilschen um Koalitionen und Neuwahlen herauskommt: Die Arbeitenden werden ihre Interessen selber verteidigen müssen. Es ist nicht anders als bei uns in Deutschland.
Vom Standpunkt der Arbeiter hat daher ein anderes Ereignis eine größere Bedeutung, von dem die Medien kaum berichtet haben: die spontane Welle von massiven Streiks und Fabrikbesetzungen, mit denen zehntausende Arbeiter in den letzten Wochen für mehr Lohn und das Recht auf freie Wahl ihrer Gewerkschaft gekämpft haben.
Angefangen hat es in einer Fabrik von Bosch in Bursa. Hier haben die Arbeiter in einem kurzen, entschlossenen Streik rund 130 Euro Lohnerhöhung durchgesetzt. Sie reagierten darauf, dass alle Löhne in der Türkei im letzten Jahr regelrecht abgestürzt sind, weil es eine Inflation von 25% gibt.
Der Erfolg der Bosch-Arbeiter hat anderen Mut gemacht, und der Streik hat sich immer weiter ausgebreitet: auf Renault, Tofaş (Fiat) und andere Metallbetriebe in Bursa, dann auf andere Städte, auf Ford in Izmit, Türk Traktör in Ankara und schließlich Betriebe ganz anderer Branchen wie die Raffinerie Petkim. Dutzende Betriebe mit zehntausenden Arbeitern streikten, und viele von ihnen hielten die Fabrik Tag und Nacht besetzt.
Die Arbeiter haben gestreikt, obwohl es verboten war. Denn in der Türkei gilt, was jetzt auch in Deutschland eingeführt wird und wogegen sich die Lokführer monatelang gewehrt haben: Nur die größte Gewerkschaft eines Betriebs darf verhandeln und zum Streik aufrufen, allen anderen ist es verboten. Und die größte Gewerkschaft der Metallindustrie (Türk Metal-İş), die sehr unternehmer- und regierungsfreundlich ist, bekämpfte den Streik von Anfang an.
Gemeinsam mit Unternehmern und Regierungsvertretern drohten sie: „Wir werden euch für diesen illegalen Streik entlassen und verklagen.“
Doch die Arbeiter ließen sich nicht einschüchtern. Und nach einiger Zeit bekamen die Unternehmer Bammel. Denn die Streikenden besetzten ihre Betriebe und gehorchten niemandem mehr außer sich selbst. Sie hatten die Gewerkschafter von Türk Metal-İş rausgeschmissen. Stattdessen wählten sie in einigen Fabriken ein Komitee aus Arbeitskollegen, das den Streik organisierte und verhandelte – und zwar unter der Kontrolle der Streikenden. Alle wichtigen Fragen wurden in Versammlungen aller Streikenden entschieden.
Doch was für die Bosse noch viel beunruhigender war: Die Streiks begannen, sich spontan und unkontrollierbar auf immer mehr Betriebe und Städte auszuweiten. Deshalb, und weil Wahlkampf war, traute sich die Regierung auch nicht, die Armee gegen die Streikenden einzusetzen. Sie hatte Angst, damit erst Recht einen Flächenbrand auszulösen. Umso mehr, weil wegen der Inflation alle Arbeiter in der Türkei höhere Löhne ersehnen.
Damit die Streiks wieder enden, haben die Bosse daher schon nach kurzem echte Zugeständnisse gemacht. Sie haben sofort Prämien von 500 Euro und mehr gezahlt, haben monatliche Lohnerhöhungen versprochen und außerdem die von den Streikenden gewählten Vertreter offiziell anerkannt.
Aus Angst vor einer Ausweitung der Streiks hat es in manchen Betrieben wie in Izmir gereicht, dass die Arbeiter einen Aufruf zum Streik verteilten – und schon bekamen alle Arbeiter 330 Euro Prämie gezahlt.
Und zum ersten Mal seit Jahren interessierten sich plötzlich auch die Parteien für die sozialen Probleme der Arbeiter, redeten sogar über Mindestlöhne und Arbeitsbedingungen. Schließlich wollte keine Partei die Wählerstimmen der aufgebrachten Arbeiter verlieren.
Die Streiks haben so konkret etwas verändert. Doch mehr noch zählen die Erfahrungen, die die Arbeiter in ihnen gemacht haben. Denn solche Streiks sind genau die Waffe, mit denen sie sich gegen ihre Bosse und gegen arbeiterfeindliche und diktatorische Maßnahmen der künftigen Regierung wehren können.
Eine wichtige Erfahrung dieser Streiks ist, dass Bosse und Regierung vor allem dann Angst bekommen und nachgeben, wenn sich die Streiks auf andere Betriebe ausweiten. Die Arbeiter im „Konkurrenz-Unternehmen“ oder an einem anderen Standort sind also keine Konkurrenten, sondern die wichtigsten Verbündeten in Kämpfen. Und dies gilt nicht nur in der Türkei!
Mit jedem Betrieb, den Konzerne wie Bosch oder Daimler in anderen Ländern eröffnen, globalisieren sie nicht nur Produktion und Ausbeutung, sondern auch die Kämpfe. Die Globalisierung stärkt uns Arbeiter, sie schafft uns Kampfgefährten auf der ganzen Welt.
Und umgekehrt: Die Kollegen, die aus anderen Ländern zu uns in die Betriebe kommen, sind nicht nur unsere Verbündeten bei unseren Auseinandersetzungen im Betrieb. Sie ermöglichen uns auch einen direkten Zugang zu Erfahrungen, die die Arbeitenden in Polen, der Türkei oder Griechenland machen. Auf diese Weise rüstet die Globalisierung die Arbeiterklasse für den notwendigen, gemeinsamen Kampf gegen dieses Ausbeutungssystem.