Türkei: Empörung und Massenproteste angesichts der Provokationen der Regierung

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Es war sicher nicht das erste, sondern eher das tausendste oder zehntausendste Mal, dass die türkische Polizei mit ihren üblichen Methoden gegen Demonstranten vorging. Doch die Wasserwerfer, Tränengas und Knüppelschläge gegen die Demonstranten, die ursprünglich nur gegen die Abholzung der Bäume im Gezi-Park demonstrieren wollten, hatten die gegenteilige Wirkung. Die Brutalität der Polizei und die Beschimpfungen und Verachtung von Premierminister Er-dogan haben die Empörung und die Zahl der Demonstranten verzehnfacht.

In Istanbul, Ankara, Izmir und anderen Städten sind vor allem junge Leute nun bereits seit über einer Woche jeden Tag auf der Straße – trotz der Polizeigewalt, der drei getöteten Demonstranten, der tausenden Verletzten und zahlreichen Festnahmen. Im öffentlichen Dienst fanden Warnstreiks zur Unterstützung der Proteste statt.

Längst geht es nicht mehr um die Bäume im Gezi-Park, sondern um die Regierung Erdogan und ihre Politik. Drei Mal hintereinander hat Erdogan, dessen Regierung fast 10 Jahre lang von einem außergewöhnlichen Wirtschaftswachstum profitieren konnte, die Parlamentswahlen gewonnen. Anfangs waren Erdogan und seine Partei AKP auch sehr vorsichtig und hatten bei vielen sogar Hoffnungen auf mehr Demokratie und Frieden geweckt.

Doch in den letzten Jahren zeigt die AKP immer offener ihren Islamismus und übt im Namen der Religion Druck auf das alltägliche Leben aus: Der Verkauf von Alkohol wird eingeschränkt. Durchsagen in der U-Bahn rufen zu „moralischem Verhalten“ auf und sollen Verliebte davon abhalten, sich in der Öffentlichkeit zu küssen. Und auch das Recht auf Abtreibung, das es (im Gegensatz zu Deutschland) in der Türkei gibt, wird von Erdogan in Frage gestellt.

Ein Teil der Bevölkerung ist schockiert über diese Entwicklung und ebenso über die wieder zunehmende Gewalt gegen Demonstrationen, Gewerkschaften, Kurden: 130.000 Menschen sitzen derzeit im Gefängnis, 50.000 mehr sogar als zur Zeit des Militärputsches 1980. Hinzu kommt Erdogans Einmischung im Nachbarland Syrien, von der viele befürchten, dass sie den Krieg auch in die Türkei tragen könnte.

Zum ersten Mal stellen die heutigen Proteste die Regierung Erdogans, die so sicher im Sattel zu sitzen schien, in Frage. Und selbstverständlich versuchen Erdogans politische Konkurrenten dies für sich auszunutzen, sowohl seine Rivalen in der eigenen Partei als auch die größte andere Partei, die mit der Armee verflochtene, kemalistische Sozialdemokratische Partei CHP.

Aber die Bewegung kann auch noch weiter gehen und weitergehende Perspektiven entwickeln als die Frage, wer an der Spitze der Regierung steht. Nicht wenigen der heute Demonstrierenden geht es auch um die Geschäftemacherei der Regierung und um die Allmacht der Unternehmer, um die Ausbeutung und die Härte des täglichen Lebens: ein Leben, in dem Miete, Strom und Essen zu bezahlen für viele ein ständiger Kampf bleibt und Unsicherheit, erzwungene Schwarz–arbeit und tödliche Arbeitsunfälle den Arbeitsalltag bestimmen.

Viele Arbeiter haben die Nase voll von Erdogans Lobgesängen auf den angeblichen Wirtschaftsaufschwung, von dem sie nichts zu sehen bekommen. Eine Unzufriedenheit, die sich in den letzten Monaten in Bewegungen der Arbeiter im Automobilsektor, bei Bosch, Ford, BMW, Fiat und Renault oder auch in dem wilden Streik in den Textilfabriken von Gaziantep ausdrückte.

Die Arbeiterklasse in der Türkei, die über eine große Tradition an gewerkschaftlichen und politischen Kämpfen verfügt, kann nicht nur an der heutigen Bewegung teilnehmen, sondern sich in ihr auch eigenständig organisieren, ihre eigenen Forderungen nach vorne bringen und sich als politische Kraft zeigen, die mit dieser Ausbeutergesellschaft ein für allemal Schluss machen will.

Zahlreiche der heute protestierenden Arbeitenden und Jugendlichen jedenfalls werden sich auf Dauer nicht mit der vagen Aussicht auf einen Machtwechsel an der Regierung zufrieden geben. Und eine Bewegung wie die heutige ist dafür eine viel bessere Schule als alle Reden.

In ihr können die Teilnehmer auf der Straße messen, wie zahlreich sie sind und wie stark ihre Empörung. Und sie können wichtige Erfahrungen darin sammeln, was es braucht, um nicht nur die Polizisten vom Taksim-Platz zu vertreiben, sondern die Staatsmacht und die Ausbeuter zu besiegen.