Machtkampf im türkischen Staat: Was bedeutet er für die Arbeitenden?

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Viele haben sich hier gefragt, wieso der türkische Staatschef Erdogan und seine Partei AKP die Kommunalwahlen wieder mit 46% gewonnen haben. Schließlich hatte es erst im Juni 2013 wochenlange Massenproteste gegen die Regierung gegeben, und vor einem Monat waren erneut Hunderttausende gegen Erdogan auf die Straße gegangen.
Insbesondere die städtische Jugend empfindet Erdogan, der im Namen der Religion ihr Alltagsleben zu überwachen und einzuschränken versucht, zunehmend als Bedrohung. Und kurz vor der Wahl wurde noch bekannt, dass Erdogan, der große Moralapostel, über 1 Milliarde Euro an Schwarzgeldern vor allem durch Korruption kassiert und versteckt hat.

Doch welche Alternative zu Erdogans AKP hatten die Wähler? In Konkurrenz zur AKP trat die “republikanische Volkspartei“ CHP an, deren Anführer seit 80 Jahren für Folter und Korruption berüchtigt sind. In den zwei wichtigsten Städten waren die CHP-Kandidaten diesmal: in Ankara ein ehemaliger Rechtsextremer, und in Istanbul ein Kandidat, der noch vor kurzem in einen berüchtigten Korruptionsskandal verwickelt war.
Da sollten die Wähler der CHP glauben, dass sie die „Verteidigerin der einfachen Bevölkerung“ gegen Erdogan wäre?

Gegenüber dieser wenig beliebten Partei steht die Regierung Erdogan für viele zumindest für das zehnjährige Wirtschaftswachstum, das zufällig in seiner Regierungszeit stattfand und während dem sich gerade die niedrigen Löhne immerhin verdoppelt haben, von rund 200 auf 400 Euro im Monat. Millionen Ärmere erhielten außerdem zum ersten Mal Zugang zu einer, wenn auch eingeschränkten, Krankenversicherung.
Und so hat die CHP mit 28% die Wahl verloren, obwohl sie die Unterstützung des großen türkischen Unternehmerverbandes Tusiad, der mächtigen religiösen Bruderschaft Gülen und der USA hatte.

Tatsächlich sind die Kommunalwahlen nur eine Episode in einem offenen Machtkampf, den sich zwei Gruppen innerhalb des türkischen Staatsapparates liefern: Ein Teil der hochrangigen Funktionäre aus Polizei, Militär und Justiz steht hinter Erdogan, ein anderer Teil hinter seinen Gegnern und vor allem hinter der Gülen-Bruderschaft, deren Anführer in den USA lebt.
Beide Seiten kämpfen um die Macht im Staat. So hat die Finanzdirektion der Polizei (Gegner Erdogans) im Dezember 56 Personen aus dem engen Umfeld Erdogans festnehmen lassen, kurze Zeit später hat Erdogan 8000 Polizisten dafür strafversetzt.
Der Sieg bei den Kommunalwahlen hat das Lager von Erdogan gestärkt. Und das wird er nach Kräften ausnutzen, um noch härter gegen alle seine Gegner vorzugehen. Schon hat er diese Woche in Adana 8 Polizisten der Gegenseite verhaften lassen.

Doch auch die Gülen-Bruderschaft hat eine mächtige Stütze: die USA. Die möchte Erdogan als Staatschef gerne loswerden, weil dieser nicht mehr auf die „Ratschläge“ der USA hört. Weil er sich zum Beispiel nicht an der Wirtschaftsblockade gegen den Iran beteiligt, sich nicht an die Syrien-Politik der USA hält und eine militärische Annäherung an China und Russland sucht.

Der Kampf um die Macht wird also weitergehen. Seine nächste große Etappe sind im August die Präsidentschaftswahlen. Dafür wollen beide Seiten wieder die einfache Bevölkerung davon überzeugen, dass sie ihr Freund und ihre einzige Hoffnung sind.
In Wahrheit ist keines der beiden Lager der Freund der Arbeitenden. Keines verteidigt ihre Interessen. Ob Erdogan oder Gülen, beide bedeuten eine Regierung der Zensur und Korruption, bedeuten Verstärkung der Religion und der Unterdrückung im Alltag.
Und beide werden in einer Zeit, in der sich das türkische „Wirtschafts-wun-der“ dem Ende zuneigt, soziale Angriffe gegen die arbeitende Bevölkerung führen, und dafür auch ihren Polizeiapparat und die (religiöse) Propagandamaschine nutzen. Auf einen Sieg der einen oder anderen Seite zu hoffen, ist für die Arbeitenden eine Sackgasse.

Doch es gibt eine wirkliche Alternative. Im Juni konnte man erleben, wie schnell spontane Massenproteste entstehen können. Und solche Proteste müssen sich nicht darauf beschränken, einen Wechsel der Regierung zu fordern.

Die Arbeitenden können in ihnen, vor allem mit Streiks, eigenständig auftreten und für ihre Interessen kämpfen. Für Forderungen, die gerade in der schlechter werdenden Wirtschaftslage akut werden, wie den Stopp der Privatisierungen, die Anpassung der Löhne an die steigenden Preise, Arbeitsverträge für alle, gewerkschaftliche Freiheit und Redefreiheit…
Und wenn die Arbeiterklasse als eigenständige Kraft und mit eigenen Perspektiven zu kämpfen anfängt, dann gibt es eine echte, große Chance, dass sich für ihr Leben tatsächlich etwas ändert.

Große soziale Kämpfe der Arbeitenden sind außerdem Momente, in denen insgesamt ein frischer Wind weht, in denen daher allgemein fortschrittliche Ideen stärker werden. Das hat die türkische Arbeiterklasse in den großen Streiks und sozialen Kämpfen der 60er und 70er Jahre erlebt.
Nur ein Wiederaufleben solcher sozialen Kämpfe wird daher auch die derzeitige beunruhigende Rückwärtsentwicklung der gesamten Gesellschaft, die wachsende Unterdrückung der Frauen, den steigenden Einfluss der Religion aufhalten können.